download as PDF

DER DREIZEHNTE MONAT

Fabian Schönheich, 2013

Seit Menschengedenken schaffen wir Systeme um unser Leben zu strukturieren, zu vereinfachen, ihm eine Form zu geben. Dabei geht es nicht nur um die Vereinfachung unseres privaten Alltags, sondern auch um das Leben in einer Gemeinschaft. Teilweise basieren diese Ordnungssysteme auf natürlichen Phänomenen wie z.B. der Mondphase, teilweise sind sie künstlich generiert, wenn wir von politischen oder sozialen Systemen sprechen.
Der Schweizer Künstler Boris Rebetez bedient sich in seiner Arbeit Calendrier (2013) einem Ordnungssystem, das bereits seit der Antike Verwendung findet, dem des Kalenders. 13 Kalenderblätter, nur mit den jeweiligen Monaten beschriftet, zeigen in Aquarell umgesetzte Ansichten der Gartenstädte Floréal und Le Logis in Brüssel. Genau diese beiden künstlich erschaffenen Siedlungen sind es, die auch in der Arbeit Le Logis ou le secret identitaire von 2011 Thema sind, einer Dia-Projektion verschiedener schwarz-weiss Detailaufnahmen der Siedlungen, die nach dem Zweiten Weltkrieg aus Gründen der Wohnungsnot entstanden. Beide Siedlungen, entworfen von Louis Van der Swaelmen (1883-1929), einem belgischen Städteplaner und dem Architekten Jean-Jules Eggericx (1884-1963), folgen Entwürfen des Briten Ebenezer Howard (1850-1928), der den Begriff der Gartenstadt prägte und mittels dieses Modells das Städtewachstum in der Zeit der Industrialisierung kontrollieren wollte. Geschaffen wurden, und das in Europa und den USA, Siedlungen, die heute vergleichbar mit dem Modell der Gated Community sind: (isolierte) Wohnstrukturen, die Platz für eine Vielzahl von Bewohner bieten und ausserhalb einer Stadt eine autonome Stadtstruktur und eine eigene Infrastruktur aufzeigten. So bildeten sich eigene Gemeinden, die sich selbstversorgend parallel zu den zentralen Stadtgebieten entwickelten. Eben auf diese Utopie geht Rebetez ein und präsentiert nun menschenleere Strasse, Einfahrten, Vorgärten wie Ein- und Mehrfamilienhäuser. Die unheimliche Ruhe und sichtliche Geborgenheit der Siedlungen wird sichtbar in den schwarz-weiss gehaltenen Diapositiven, die eher eine melancholische Stimmung vermitteln. Im Gegensatz dazu dominiert nun Licht und Farbe die Aquarelle. In dieser impressionistischen Manie hebt Rebetez die Träume der Erbauer wie derer, die in den Siedlungen leben hervor. Das Idyll der geformten, kontrollierten Umgebung in der jeder und alles gleich ist; einer Umgebung in der kein Unterschied existiert und in der keine Probleme auf Ungerechtigkeiten oder ungleichen Verhältnissen basieren. Dennoch schafft Rebetez 13 Kalenderblätter, eben genau einen zu viel. Er bedient sich dem Ordnungssystem des Kalenders hält es dann aber doch nicht ein. Erich Kästner (1899-1974) verfasste 1955 einen Gedichtzyklus bestehend aus 13 einzelnen Werken die den Titel Die 13 Monate (1) trugen, eine der romantischsten Arbeiten des deutschen Schriftstellers. In den ersten 12 Gedichten, Januar bis Dezember beschreibt er die spezifischen Eigenschaften jedes einzelnen Monats. Das 13. Gedicht ist es allerdings, das versucht als ein Schaltmonat all die individuellen Eigenschaften der vorhergehenden 12 zusammenzufassen, was aber scheitern soll. So heisst es: „ [...] Man macht, wir wissen's, aus zwölf alten Bildern kein neues Bild. [...] (2). Jeder Mensch ist individuell und zeichnet sich durch seinen ganz persönlichen Charakter aus, ähnlich wie es die Monate nach Kästner tun. Diese Individualität durch künstlich erzeugte Ordnungssysteme einzuschränken kann nicht funktionieren, es bleibt eine Illusion. Rebetez zeigt uns genau das auf sehr eindrückliche Weise und so verweist er auf diese Utopie einer konstruierten Gesellschaft, den Schattenseiten einer gleichförmig konstruierten Wohnsiedlung, die das Beste aus der Vergangenheit mit den Träumen an die Zukunft verbinden möchte und genau daran scheitern soll. Boris Rebetez’ Calendrier (2013) ist ein Bildwerk, dass die romantische Idee einer in sich geschlossen Gesellschaft wiederspiegelt, in der man versucht Offenheit und Freiheit durch Gleichheit und Monotonie zu schaffen.

(1): Die ersten 12 Gedichte des Zyklus entstanden im Auftrag der Schweizer Illustrierten Zeitung und erschienen monatlich zwischen Dezember 1952 und Dezember 1953. 1954 schrieb Kästner das 13. des Zyklus, den 13. Monat.
(2) Erich Kästner, Der Dreizehnte Monat, in: Erich Kästner, Die 13 Monate, 1955.