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Katharina Dunst

 

TENANT’S AGREEMENT

 

„environment and the establishment of a way of life“

Ist Titel einer Reihe von fünf Zeichnungen aus dem Jahr 2009. Boris Rebetez zeigte sie erstmals im Rahmen der Ausstellung „romans d’anticipation“ zusammen mit einer Serie Gouache-Tusche-Arbeiten, die zu ähnlicher Zeit entstanden ist. In ihrem Ensemble behandeln beide Werkgruppen das Thema „Umgebung“, ein Gegenstand, der substanziell zum Schaffen des Künstlers gehört. Sei es in Collagen, Zeichnungen oder Installationen: stets blicken wir durch seine Bilder in sich ausbreitende Räume, Land- oder Stadtlandschaften. Fluchtlinien führen aus ihren  Zentren hinaus oder konvergieren in einem Punkt der Verdichtung. Sie zerschneiden die weisse Fläche des Papiers, öffnen sie und geben einem Raum Platz, der voller neuer Möglichkeiten ist.

Oft zeigen sich verlassene Szenerien, die scheinen, gerade eben Ort des Geschehens gewesen zu sein oder den Moment des Geschehens abzuwarten. Verlassene Plätze, menschenleere Gebäude oder isolierte Objekte werden selbst zu Akteuren und Projektionsflächen menschlichen Befindens.

 

 

Ein erstes Blatt fängt den Blick über harte Kontraste. Wir schauen in eine Landschaft unter weitem Himmel. Sanfte Farben legen sich in Flecken über scharf gezogene Linien. Schnelle, resolute Pinselstriche zeichnen Markierungen auf ihre Oberfläche.

In der strengen Begrenztheit des Bildraums stossen Elemente verschiedener Genealogien aneinander und reissen  an ihren Rändern eine Schlucht auf. In einem eiligen Schwung zieht sie sich gegen den Horizont. Tektonische Platten driften auseinander und Lichtstrahlen lassen den Himmel zersplittern wie zerbrochenes Glas. Den Eindruck von Erdgewalt besänftigen die pastellfarbenen Flecken. Dennoch kommen Momente der Irritation auf an jenen Stellen, wo die wässerige Farbe den vorgezeichneten Konturen nur folgt, um sie im nächsten Moment zu überschreiten. Gelegte Grenzen werden erkannt und dennoch verlassen, ein neuer Ort beansprucht sein Terrain. Noch radikaler wird dieses eingefordert von den gemalten Zeichen, welche die oberste und letzte Schicht des Bildes markieren. Die Illusion des Raums und des Überblicks wird mit groben Pinselstrichen überschrieben oder gar verworfen. Kreuze, Kreise und Dreiecke vermessen die Oberfläche. Sie machen sich breit über dem ganzen Blatt und bezeichnen seine Flachheit, jegliche Tiefe verneinend, jegliche Geschichte und Repräsentation ausschliessend, nur sich selbst darstellend.

 

Aus dem Papier heraus.

 

Boris Rebetez baut seine Bilder in Schichten auf. Die Konstruktion aus frei interagierenden Flächen und sich gegeneinander verschiebenden Ebenen koinzidiert mit ihrem Gegenstand der Landschaft. Malschichten und geologische Schichten folgen in einer parallelen Bewegung einer Zeitachse, die sich vom Bildgrund zum Betrachter hin bewegt.

 

Schichten in der Landschaft können Platten sein, die sich gegeneinander verschieben, sie trennen sich in Schnitten oder Brüchen. In erddynamischen Prozessen kann es passieren, dass eine Platte unter die andere gerät oder dass eine alte erneut an der Oberfläche auftaucht. Einzelne, unkoordinierte Bewegungen manifestieren sich im Raum als Risse und Spalten und heben damit die Konstruiertheit des vermeintlich Homogenen ans Tageslicht. Wo ein Teilstück auf ein anderes trifft, findet eine neue Organisation und Neuaufteilung der alten Gebiete statt.

 

Diese Vorstellung des zusammengesetzten Raums, lässt sich in den Collagen Boris Rebetez’ besonders deutlich nachvollziehen.  Aus gefundenem Fotomaterial wählt der Künstler Teile aus, extrahiert sie in meist horizontalen Schnitten und montiert sie zu einem neuen Bildeinheit. Was auf den ersten Blick als homogene Landschaft erkannt wird, erweist sich als ein lose gefügter Zusammenhang.

Dieses Konstrukt entspricht einer durchaus erfahrbaren Wahrnehmung, vor allem von Stadt. Wenn wir uns ihr Gebiet bei einer Fahrt mit öffentlichen Verkehrsmitteln vorstellen, gleicht das sinnliche Erfassen von Orten des Anhaltens einer Aneinanderreihung von Teilen und einem Kontinuum das sich, ähnlich einer filmischen Handlung über Schnitte und im Lauf der Zeit konstituiert.  Rufen wir uns einen Stadtplan vor das innere Auge, sehen wir ein verwandtes Bild: Verkehrslinien schneiden Quartiere auseinander und legen ein funktionales Netz über den Körper der Stadt. Bereits um 1953 zeigte Chombart de Lauwe  in seiner Studie „Paris et l’agglomération parisienne“[1]auf, dass eine urbane Nachbarschaft nicht nur durch geographische und ökonomische Faktoren bestimmt ist, sondern auch durch den Eindruck, den seine Einwohner von ihr haben. Er illustrierte die Enge des Bewegungsradius’ einer Studentin im 16. Arrondissement in einem Diagramm, welches ihre Bewegungen innerhalb eines Jahres aufzeigt. Sie bilden ein kleines Dreieck zwischen der Schule der Politikwissenschaften, ihrer Wohnung und jene ihres Klavierlehrers.

 

In der Theorie der situationistischen Psychogeografie mischte sich die „geografische“ Beschreibung des Raums mit dem Begriff eines „bewussteren Zustands“. In einer Art spielerischer Praxis wurde eine neue Wissenschaft gefordert, die Raum, Ereignis, Bewegung und deren Auswirkungen auf das menschliche Befinden und Denken untersuchte. Gilles Ivain entwarf ebenfalls um 1953 die Idee einer neuen Architektur mit der Möglichkeit, die üblichen Zeit- und Raumkonzeptionen zu verändern. Dies sollte durch formbares Material und ständige Bewegung realisiert werden.  Die Stadtviertel könnten damit der Bandbreite verschiedener Gefühlszustände entsprechen, die man im Leben gewöhnlich antrifft.  Dieses Neudenken des Stadtraums in Kategorien, die grundsätzlich architekturfremd waren, richtete sich gegen die funktionalistische Theorie, welche als reaktionär bezüglich der Vorstellung über Gesellschaft und Moral wahrgenommen wurde.

 

In einer solchen Konzeption einer Architektur der ständigen Formung sah auch Asger Jorn die Möglichkeit einer umfassenden gesellschaftlichen Erneuerung:

 

"Architecture is always the ultimate achievement of intellectual and artistic evolution, the materialization of an economic stage. Architecture is the final point in the achievement of any artistic endeavor because the creation of architecture implies the construction of anenvironment and the establishment of a way of life."

 

Die Neuerfindung des Raums

           

 

Wie der aufgefangene Rest eines verlorenen oder gelöschten Dokuments platzieren sich die Worte „environment and the establishment of a way of life“ im beschriebenen Aktionsraum des Bildes.  Der Schriftzug ist Fragment, so wie die Zeichnung, die Farbflächen und Markierungen nur Teile eines Ganzen sind, das sich über Schnitte und Montagen konfiguriert. Nicht in einer filmisch-narrativen Sukzession, sondern in ein und derselben Cadrage. Ganz zweidimensional und dennoch über Zeit und Raum.

 

Am unteren Rand jedes Blattes der Reihe platziert, definiert sich die kursiv gedruckte Zeile als eine Beschreibung des Bildinventars. Fünfmal wiederholt, benennt sie Variationen eines Themas und gestaltet damit einen Denkraum der Kontingenz. Beliebig liessen sich weitere Möglichkeiten der Darstellung und Kombination von Umwelt und gestalterischer Lebensenergie erfinden.  Es sind fünf unterschiedliche Landschaften, die sich in je ähnlicher Weise ins Papier setzen. Jede Zeichnung lässt den Bildraum in der weissen Fläche aufklaffen. Fünfmal legen sich Farben in vorgefasste Formen, mal die Grenzen einhaltend, ein andermal übertretend. In jedem der fünf ist die Diskontinuität gestaltendes Mittel.

Der Eindruck eines Diagramms entsteht mit den gestischen, dynamischen Überzeichnungen, welche die Illusion der Bildtiefe stört und die Landschaft wie eine Landkarte behandelt. Als verschaffte sich der Macher damit einen Überblick über geplante Aktionen.

 

In einem solchen Vorgehen in Schichten kombinieren sich verschiedene Medien, von denen keines den Anspruch erhebt, ein anderes in sich zu integrieren oder sich dominant über das andere zu stellen. So betitelt der Künstler auch niemals ein Bild mit einem technischen Begriff wie „Zeichnung“, „Collage“, oder „Skulptur“ etc. Es geht nicht um eine Erforschung und Auslotung innerhalb gesetzter Gattungsgrenzen sondern eher um das Kippen der Ansicht und des Standpunkts. Resultat daraus ein „anderes Sehen“ und Erschliessen des Gewöhnlichen.

Gerade im Wechsel zwischen graphisch, malerisch und haptisch entwickelt sich die Aktion dieser Bilder. In der Qualität und Spezifik des einen befragt sich das andere und thematisiert die Grenzen des Sag- und Zeigbaren.

 

Jenseits von Medialität und fragmentiertem Bildraum begegnet dem Leser und Betrachter der Titel unter den Bildern wie ein Bekannter einer anderen Zeit. Zusammen mit den kühlen Pastelltönen schwebt eine Stimmung verblichener Aktualität über der Serie, die 50er Jahre?

Dies wohl einerseits, weil die Begriffe „Umwelt“ und „way of life“ in dieser Kombination nicht zeitgenössisch erscheinen; man kann nicht umhin, sie in Zusammenhang mit einer bestimmten Vorstellung von Moral oder Ideologie zu lesen. Zusätzlich besetzen die Worte  in der Zeichnung eine Schicht, zu welcher der unmittelbare Zugang nicht mehr möglich ist, eine Schicht, die sich bereits verfestigt hat und nicht mehr im Begriff der Formation steht. Zeichnungen wie auch Titel sind technisch reproduziert (fotokopiert), und bezeichnen damit eine Distanz zu ihrem Ursprung. Sie repräsentieren somit unten im Bild dass Archiv oder die Erinnerung. Erstere  hat der Künstler 2008 während eines Romaufenthalts als Skizzen entworfen.

Interessant dabei ist, dass sich in der beschriebenen Zusammensetzung der Grund des Bildes zu einem Teil aus dem  persönlichen Archiv, andernteils  aus dem kollektiven Gedächtnis aufbaut. Eine individuelle Auseinandersetzung mit Landschaft trifft dabei auf eine, die Ihren Platz  in der Geschichte und Gesellschaft einnimmt. Einzelnes und Allgemeines, Privates und Öffentliches stösst aneinander und durchwirkt sich auf eine Weise, dass Grenzen zum Teil unkenntlich werden oder neue Linien ziehen.

 

Durch die Reproduktion der Vorzeichnung stülpt der Künstler das traditionelle Bildverfahren des Entwurfs und der Übermalung um. Galt die Skizze einmal als Ort der Bilderfindung agiert sie hier als Figur der Reminiszenz. Sie spricht sich damit gegen die Möglichkeit einer „Neuerfindung“ aus, und verschreibt sich vielmehr dem interesselosen Finden, Zusammenfügen und Überarbeiten. Aber auch dem Versuch, Altbekanntes in neuer Weise zu denken und an Ungewohntes anzuschliessen.

So können wir die paar Worte Asger Jorns als rückwärtsgewandt aber in ihrer Befreiung von Prädikat und Subjekt auch als „freie Radikale“ verstehen, die sich an oder in eine neue Geschichte einschleichen und ihr eigenes Kapitel dazu schreiben. Befreit von Akteur und Aktion blicken wir auf vereinzelte Bedeutungsträger ganz so, wie wir in Boris Rebetez’ Bildern auf die „Um-Welt“ im wahrsten Sinne schauen, in eine „ausgestorbene Strasse voller Menschen“. [2]

 

Über die Bedeutung von Gegenwart und Vergangenheit spricht Boris Rebetez in einem Interview mit Felix Burrichter. Auf die Frage, ob ihn zeitgenössische Architektur interessiere, antwortet er: „ Ich hab kein wirklich starkes Interesse an Architektur selbst. Es ist eher die Idee des Raums oder von Situationen, die mich interessiert; (...) Es sind die Gesamtheiten und die Dinge zwischen den Objekten (...) Als Bewohner einer Stadt benutzen wir Architektur und sind von ihr beeinflusst – ich habe aber keine Vision für eine bessere Architektur der Zukunft. Ich kümmere mich eher um Dinge aus der Vergangenheit und Dinge, die schon bewohnt waren und die damit ein Leben erhalten haben. Neue Architektur ist weniger interessant für mich weil sie mir zu frisch ist und noch nicht lebendig.“[3]

 

 

D I E  Ü B E R S I C H T

 

Dies führt schliesslich zur Frage  der Position des Künstlers und einer zusammenfassenden Betrachtung.

Werden in der Zeichnungsserie „environment and the establishment of a way of life“ Aussagen einiger unserer kulturellen Väter und eine obsolete Praxis der Stadtveränderung heraufbeschworen oder werden wir in der Betrachtung der Arbeiten Boris Rebetez’ Zeuge eines nostalgischen Rückblicks auf eine (nun) überschaubare Zeit?

Interpretiert man die Grundlage der zentral besprochenen Zeichnungsserie „environment and the establishment of a way of life“ als programmatisch, nimmt „Zeichnung“ den Platz des  Fundaments der ganzen Arbeit ein. Sie definiert sich aber nicht entlang ihrer Gattungsgeschichte oder -grenze sondern agiert als Medium im wahrsten Sinne, als Mittel. Der Strich verfährt ähnlich einem Schnitt, er umreisst Konturen, extrahiert und bildet die Grenze zur Umgebung. „Fragmente verschiedener Herkunft verdichten sich zu einem homogenen Bild. Diese Verdichtung erzeugt eine Spannung, welche das Bild entweder zu einer Implosion oder Explosion in die Leere führt.“[4]

 

Die Leere, die sich an dieser Stelle artikuliert, bezeichnet den Ort des  Übergangs, wo sich das Bild einer übergreifenden Idee zuweist. Dieser Transit vom Material zum Denken beschreibt eine der Zeichnung immanente Qualität.

 

Im Grunde ist eine Zeichnung ein  einmaliges Werk auf Papier[5]. Natürlich kann man auf irgendeinen Untergrund zeichnen, auf eine Wand, eine Strasse, auf einen Bildschirm etc. Genauer betrachtet ist Papier nur der Träger einer Zeichnung und das Material auf dem Papier ist das „Medium“. Papier aber ist ein spezieller Träger. Es ist eine leichtgewichtige Membran, dessen eigene Materialität generell übersehen wird – sogar wenn sie dem Zeichner als wesentlich erschien. Papier wird behandelt, als ob es nicht vorhanden wäre, es besetzt die Schwelle zwischen Materialität und Immaterialität. Deshalb eignet es sich, die klassische Grenze zwischen Material und Idee zu überbrücken.[6]Traditionellerweise wird dem Medium Zeichnung der Zugang zum Denken zugesprochen. So schreibt Vasari im 16. Jahrhundert: „Die Zeichnung entwirft auf der Grundlage der Anschauung vieler Einzelgegenstände eine universale Anschauung (giudicio universale). Diese entspricht einer wohlproportionierten Grundform oder “idea“ aller Naturgegenstände. (...) etwas wird im Geist aufgefasst und dann mit Hilfe der Hände zum Ausdruck gebracht.“[7]Tatsächlich werden Zeichnungen  wie Gedanken behandelt. Es ist, als ob die Materialität des Mediums in die Quasi-Immaterialität des Trägers übergehen würde. Eine gewisse Art, Papier anzuschauen oder eher eine gewisse Blindheit, erlaubt es physischen Zeichen, den Status von immateriellen Ideen anzunehmen.[8]Lesen wir „Zeichnung“ mit der exemplarisch beschriebenen Anlage der Zeichnung von Boris Rebetez, finden wir nach konsequenter Subtraktion der Akteure die Zwischenräume und die Umgebung der Zeichnung in der Auslassung. Dorthin fliehen die Linien, dort laufen sie zusammen oder prallen aufeinander als reine Möglichkeiten am Rand der Zeichnung und an der Schwelle zum Denken. Der kulturelle Raum entledigt sich damit der Illusion seiner Einheit und Machbarkeit und übergibt sich der Idee und der aktiven Vollendung des Betrachters.

 

 

 

 

 



 

 

1 Bibliothèque de Sociologie Contemporaine, P.U.F., 1952

2 Fernando Pessoa, in: Das Buch der Unruhe des Bernard Soares, zitiert in: Moritz Küng

3 Boris Rebetez im Interview mit Felix Burrichter in: PIN-UP, nr. 2, Magazine for architectural entertainment, New York 2007

4 Alex Not zur Arbeit von Boris Rebetez in : Instability of a landscape, FS.14, Antwerpen

 5 gemäss Definition des Drawing Centers, New York

6 vgl. Mark Wigley, Paper, Scissors, Blur, S. 28f.

7 Giorgio Vasari, „Della Pittura“, in: „le vite“, Bettarini/Barocchi (Hg.), Verona 1967, S. 111 f.

Mark Wigley, S. 29